Erklärung zu den Diskussionen um die Aussage „Wer gegen Nazis kämpft kann sich auf den Staat nicht verlassen“

Am 14.02.2023 wird in der LVZ diskutiert inwiefern die Aussage „Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen“ die Polizei und den Staat verunglimpfen. Anlass für die hitzige Debatte ist die Rede von Laura Borges de Sousa welche sie als Vertreterin des Antifareferats des StuRa Leipzig (StudierendenRat der Universität Leipzig) am 30.01.2023 eine Rede auf dem Leipziger Markt hielt.

Wir, die Antifaschistinnen und Antifaschisten des VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten Leipzig e.V.), erklären uns solidarisch mit Laura Borges de Sousa und dem StuRa der Universität Leipzig. Wir stehen an der Seite derjenigen, die jeden Montag gegen Menschenfeindlichkeit und für einen solidarischen Antifaschismus demonstrieren.

Am 30. Januar 2023 fand anlässlich des 90.Jahrestages der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler eine Kundgebung der Leipziger Zivilgesellschaft unter dem Motto „Leipzig leuchtet“ statt. Verschiedene gesellschaftliche Akteur:innen aus Parteien, Gewerkschaften, Verbänden und Kirchen kamen an diesem Tag mit dem erklärten Ziel zusammen, den rechten Kräften, die seit Längerem immer montags über den Ring ziehen, ein klares gemeinsames Zeichen der Solidarität entgegenzusetzen und für Demokratie und Menschenrechte zu demonstrieren.

Nach dem Auftakt auf dem Marktplatz sollte in einer Lichterkette, die den gesamten Ring umschließen sollte, den Rechten der Raum genommen werden. Dieses Ziel wurde bei weitem verfehlt, mehr noch war es den rechten Akteur:innen ungehindert möglich auf dem Markplatz zu stören ohne dass sie beherzt des Platzes verwiesen wurden. Das war für uns besonders irritierend. Das Ansinnen von Seiten der Organistator:innen von „Leipzig leuchtet“, Menschen mit faschistischen Sprüchen vor der Bühne zu ignorieren, verurteilen wir auf das Schärfste.

Gerade für Redner:innen und Teilnehmer:innen der Kundgebung mit Migrationsgeschichte sind diese Zustände untragbar. Deutlich tritt hier die privilegierte Perspektive der weißen Mehrheitsgesellschaft zu Tage. Sie lässt den alltäglichen Rassismus und die Gewalt gegen Migranten außen vor.

Zur Farce gerät der selbsterklärte antifaschistische Protest eines breiten Bündnisses nun, wenn Vertreter:innen von Kirchen und der Polizei die Rede der Vertreterin des StuRa kritisieren und dem StuRa im Umkehrschluss mangelndes Interesse an demokratischem Diskurs unterstellen.

Aber was genau ist der Stein des Anstoßes?

Laura Borges de Sousa zitierte in ihrer Rede Esther Bejarano (1924-2021), die als Jüdin im NS verfolgt wurde und mehrere Konzentrationslager überlebte. Zeit ihres Lebens war sie eine laute Stimme gegen das Vergessen und für die Menschlichkeit. Seit 2008 war sie zudem Ehrenvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. Das nun in die Nähe der „Verunglimpfung der Polizei“ gerückte Zitat „Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen“ ist einem kurzen Fernseherauftritt von Esther im Jahr 2015 entnommen. In der ZDF-Kabarettsendung „Die Anstalt“ vom 17.11.2015 wird das Versagen deutscher Ermittlungsbehörden rund um den NSU-Komplex thematisiert. So geht es etwa um geschredderte Akten, Verdächtigungen gegen die Opferfamilien selbst oder die V-Mann-Verstrickungen des Verfassungsschutzes, welche maßgeblich Nazistrukturen mitfinanzierte. Als Abschluss der Sendung kommt Esther als Teil einer kritischen Öffentlichkeit und Betroffene zu Wort.

Ihr Einwurf „Wer gegen Nazis kämpft kann sich auf den Staat nicht verlassen“ stellt die Quintessenz des immer wiederkehrenden Versagens der Ermittlungsbehörden dar. Es ist die einzige logische Konsequenz, die gezogen werden kann, wenn man Opfern rechter Gewalt wirklich solidarisch bei Seite stehen will. Das dieses Zitat trotz der Nennung der Urheberin in der Rede sowohl von LVZ als auch den Kritiker:innen nicht kontextualisiert werden kann ist mehr als bedenkenswert.

Für die Gültigkeit der gemachten Aussage gibt es mehr als genug Hinweise. Sei es im Rahmen des NSU-Komplex, beim Mord an Walter Lübcke, dem Anschlag auf die Synagoge in Halle, dem rassistischen Anschlag in Hanau, rechten Chatgruppen in Polizeibehörden und beim Militär, NSU2.0, der rechten Anschlagserie in Berlin-Neukölln, illegalem Bespitzeln von Fans der BSG Chemie Leipzig ab 2013 durch die Sächsische Polizei… die Beispiele für rechte Tendenzen in Justiz, Polizei und Militär lassen sind gut dokumentiert ihnen allen ist gemein, dass sie selten Konsequenzen für die Beteiligten hatten. Während diese Zeilen entstehen, berichtet der MDR erst wieder über eine rechte Chatgruppe an der Polizeihochschule in Aschersleben. Keine Berufsgruppe fällt ähnlich häufig mit derlei menschenverachtenden Chatgruppen auf.

Immer wieder ist als kritische Zivilgesellschaft festzustellen, dass bei Ermittlungen entweder rassistische Stereotype aktiv reproduziert werden, Ermittlungen eingestellt oder nie echte Aufarbeitung angestrebt wird. Die Stimmen, die lückenlose Aufklärung fordern werden zum Glück immer lauter. Ehrenamtliche Initiativen leisten wichtige Aufklärungsarbeit, die eigentlich von staatlichen Behörden erledigt werden sollte. Die Initiative Oury Jalloh stellt seit 18 Jahren Untersuchungen an, um den Feuertod Oury Jallohs in einer Dessauer Polizeizelle aufzuklären. In der „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“ leistet Serpil Temiz-Unvar, die Mutter eines der am 19.Februar 2020 in Hanau aus rassistischen Gründen Ermordeten, unermüdliche Bildungs- und Aufklärungsarbeit. Der „Initiative 19.Februar Hanau“ ist es zu verdanken, dass der katastrophal verlaufende Polizeieinsatz am Abend des Anschlags weiterhin besprochen wird. 13 SEK-Beamte, die an diesem Tag migrantisierte Menschen schützen sollten, waren selbst Teil einer rechten Chatgruppe. In der Initiative „Tribunal NSU-Komplex auflösen“ finden sich verschiedenste Betroffene rechter Gewalt und von systematischem Staatsversagen zusammen und fordern weiterhin lückenlose Aufklärung von menschenverachtenden Gewalttaten. All diesen Initiativen werden immer wieder Steine in den Weg gelegt, Behörden mauern, Ermittlungsakten werden vernichtet, geschwärzt oder sie verschwinden für Jahrzehnte in den Archiven.

Getroffene Hunde bellen

Wenn Akteure der kritischen Leipziger Zivilgesellschaft all dies ausblenden und stattdessen bei Kritik an Ermittlungsbehörden, Staat und Polizei direkt „Verunglimpfung“ wittern und Unbehagen empfinden, ist dies ein Armutszeugnis und zeugt von Unkenntnis oder Desinteresse. Aufgabe einer kritischen Zivilgesellschaft ist es nach unserem Verständnis nicht den Staat und seine Institutionen zu verteidigen, vielmehr ist es Aufgabe dem Staat und seinen Eingriffen in das öffentliche Leben kritisch beobachtend gegenüberzustehen. Dazu gehört es auch Fehlentwicklungen zu adressieren, Versagen konkret zu benennen und Verbesserungen zu fordern.

All diejenigen die sich nun durch einige zugespitzte Worte vor den Kopf gestoßenen fühlen, fordern wir auf, sich und ihre Position in der Gesellschaft noch einmal zu hinterfragen. Aus der eigenen Position heraus ist es immer leicht die gemachten Aussagen abzuwiegeln und zu beschwichtigen. Die Aufgabe einer kritischen, solidarischen Öffentlichkeit ist es jedoch sich intensiv mit den Lebensrealitäten von gesellschaftlich weniger Privilegierten auseinanderzusetzten. Lebensrealitäten und Alltagserfahrungen marginalisierter Mitbürger:innen ernst zu nehmen, ihren Schilderungen Berechtigung zuzusprechen und ihnen Verständnis gegenüber aufzubringen oder dies zumindest zu versuchen, dies sollte die Maxime einer solidarischen Stadtgesellschaft sein. In keiner Weise ist es ihre Aufgabe reflexhafte Verteidigungen einer staatlichen Institution gegen vermeintlich unbegründete Kritik zu formulieren.

Seit Jahren empfehlen internationale Menschenrechtsgremien etwa die Einrichtung von unabhängigen Beschwerdestellen, um mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige der Polizei nachgehen zu können. Eine Institution, die es in anderen Ländern längst gibt. Hierzulande wird jede Kritik an der Arbeit der Polizei, ihren Einsätzen und auch rechter Tendenzen innerhalb der Polizei sofort als „nicht zulässig“ von Polizei, Politik und Medien zurückgewiesen.

Gerade der Verweis auf die gewaltvolle Räumung in Lützerath zeigt, dass es eine solche Institution längst braucht und auch wir wissen aus eigener Erfahrung, dass das Vorgehen bei Demonstrationen besonders der sächsischen Polizei durchaus sehr unterschiedlich ist. Eine Aufzählung von Beispielen würde den Rahmen sprengen, es soll hier der Hinweis auf den SEK-Einsatz bei einer Antifa-Demo in Wurzen 2017 genügen. Nicht zuletzt stellen Gerichte immer wieder die Unrechtmäßigkeit von Polizeieinsätzen fest, sei es zum G20-Gipfel im Hamburg oder gegen Magdeburger Fußballfans in Bochum 2019.

Gerade für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ist es von zentraler Bedeutung, dass auch das Handeln der Polizei aufgearbeitet werden muss und sie sich nicht in ihrem Erlebten allein gelassen fühlen.

Im Sinne einer solidarischen kritische Stadtgesellschaft laden wir alle Interessierten zum gemeinsamen Gedenken an die Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau vom 19.Februar 2020 ein. Am 19.Januar jährt sich der feige Anschlag eines stadt- und polizeibekannten Rassisten zum dritten Mal. Er riss 9 junge Hanauer:innen aus ihren Leben, ihren Familien und Freundeskreisen. Daher findet am 19.02.23 ab 16.00 Uhr im Stadtteilpark Rabet eine Gedenkkundgebung statt.

Lasst uns gemeinsam an Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu und alle Verletzten, Betroffenen und Hinterbliebenen denken und ein Zeichen der Solidarität mit allen von Rassismus betroffenen setzten.

Mit antifaschistischen Grüßen

Vorstand VVN-BdA Leipzig e.V.

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