Gedenken an die Ermordeten in Lindenthal

Am 12. April fanden wir uns ab 17 Uhr mit einigen Freund:innen am „Mahnmal der 53“ in Leipzig Lindenthal ein, um den Opfern des hier vor 78 Jahren begangenen Verbrechens zu gedenken.

Neben den Widerstandskämpfer:innen  Dr. Margarete Bothe, Alfred Kästner und Paul Küstner wurden hier am 12.April 1945 50 Gefangene aus der Sowjetunion, Deutschland, der Tschechoslowakei, Polen, Frankreich und den USA ermordet.

Die meisten von Ihnen mussten zuvor Zwangsarbeit leisten und waren in diesem Zusammenhang in den Fokus der Repression geraten. So etwa der 21-jährige Leonid Blendow aus Pawlograd, der als sogenannter „Ostarbeiter“ in einem Lager in Engelsdorf untergebracht war, oder der 23-jährige polnische Zwangsarbeiter Marian Cholewa aus Liwiw, der bei der HASAG Zwangsarbeit leisten musste.

Auf Einladung der VVN-BdA Leipzig hielt unser Mitglied Juliane Nagel eine Rede, in der sie einerseits die zivilgesellschaftliche Verantwortung für aktives kritisches Gedenken an die Verbrechen des deutschen Faschismus herausstellte und andererseits ein daraus abgeleitetes konsequentes Einschreiten bei aktuellen Bestrebungen rechter Kräfte und jedwedem Geschichtsrevisionismus forderte.
Der Rede können wir uns als VVN-BdA Leipzig voll und ganz anschließen und dokumentieren sie Unten zum Nachlesen.

Wir laden euch alle ein auch in Zukunft einen Beitrag zu einer kritischen Gedenkarbeit in Leipzig und Umgebung zu leisten. Lasst uns gemeinsam neue Formen erdenken, wie wir das Andenken an die Opfer wachhalten können. Unsere Aufgabe muss es hier sein die Tage und Orte der Erinnerung als Ausgangspunkte einer antifaschistischen Alltagspraxis wieder mehr im kollektiven Gedächtnis der Stadtgesellschaft sichtbar zu machen und auch jüngeren Generationen einen Zugang zu widerständigen, solidarischen und tragischen Geschichte(n) zu eröffnen.

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Dokumentation der Rede von Juliane Nagel:

Heute stehen wir hier, 78 Jahre nach dem Verbrechen an 53 Menschen, 78 Jahre nachdem diese kurz vor der Befreiung Leipzigs von der Gestapo aus Leipziger Polizeigefängnissen geholt per Genickschuss erschossen wurden. Unter ihnen waren die Widerstandskämpfer Paul Küstner und Alfred Kästner, sowie acht weitere deutsche Häftlinge, 24 sowjetische, 7 polnische, 6 tschechische, zwei französische und ein amerikanischer Gefangener. Wir wissen, dass dies kein singuläres Verbrechen war, auch in Leipzig-Abtnaundorf und an vielen Orten bundesweit wurden Menschen im Zuge der so genannten Endphaseverbrechen massakriert.
Je näher die unausweichliche Kriegsniederlage rückte, desto erbarmungsloser gingen die nationalsozialistischen Verfolgungsinstitutionen vor, Je stärker die Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung anstieg, desto härter griffen die Unterdrückungsorgane des untergehenden NS-Staates durch. „Das vorherrschende Signum der Zeit vor dem Kriegsende war Gewalt – physische, existenziell bedrohliche, allgegenwärtig drohende Gewalt.“ so der Historiker Sven Keller.
Und so gerieten nicht nur die, die zum bekannten Feindbild der Nazis gehörten ins Visier. Die radikale Gewalt richtete sich vermehrt gegen Zivilisten, andererseits gegen Militärangehörige. In den letzten Monaten des Krieges radikalisierte sich die deutsche Militärjustiz in einer bis dato ungekannten Intensität und generierte eine weitere Ebene der Gewalt. Den Urteilen der Standgerichte, die ab Februar 1945 gebildet wurden, fielen zahlreiche Personen zum Opfer: Schätzungen gehen von mehreren Tausend Zivilpersonen aus.

Wie hätten wir damals gehandelt?

Die Aktivitäten der Gruppe um Georg-Schumann, Otto-Engert, Kurt Kresse, zu der auch die hier ermordeten Kommunisten Alfred Kästner und Paul Küstner gehörten, zeigt, dass es auch unter riesigen Gefahren für das eigene Leben Mutige gab, die sich dem man muss es so nennen – gesellschaftlichen Mainstream von Hass, Kontrolle, Gewalt und Denunziation widersetzten.
Die Verbrechen der Endphase wie hier in Lindenthal charakterisiert auf Seiten der Täter nicht nur die totale Unterordnung unter das NS-Regime, sondern auch die Identifikation mit dessen Ideologie und die Bereitschaft seine Ziele zu exekutieren. Hätten wir uns dem entziehen können?

Eins ist klar: Es dürfen nicht nur warme Worte sein, wenn wir heute an dieser Stelle bekunden, dass sich so etwas nicht wiederholen darf.
Es ist an uns zu Erinnern, es ist an uns für Wissensvermittlung einzutreten und Wissen zu vermitteln, und Orte der Pein zu Orten der Erinnerung zu machen. Viel zu viele der alltäglichen Verbrechen der Nationalsozialisten auch in Leipzig sind eben noch nicht so sichtbar, wie sie es sein sollten. Dazu gehören die Orte der Zwangsarbeit, wie das Außenlager des KZ Buchenwald „Hasag“ in der Kamenzer Straße, wo im vergangenen Jahr nach langem Druck endlich eine Gedenkstele errichtet wurde. Und das darf nur ein Schritt sein.

Es ist aber auch an uns Widerstand gegen Ausgrenzung und Hass im aktuellen Gewand zu leisten. Zum Beispiel gegen Antisemitismus, der vor dem Hintergrund der angespannten politischen Situation in Israel und in den palästinensischen Gebieten auch hierzulande wieder aggressiver wird. Und auch das Zeigen von gelben Davidsternen mit der Aufschrift „ungeimpft“ und Selbstdarstellung in KZ-Häftlingskleidung auf Demonstrationen der so genannten Corona-Leugner müssen wir als Verharmlosung des Nationalsozialismus begreifen und anprangern.
Bundesweit und vor allem in Sachsen gibt es derzeit wieder massive Anfeindungen gegenüber Geflüchteten, die vor Krieg, Verfolgung und Gewalt aus Syrien, Afghanistan, aus dem Iran, dem Irak und der Ukraine fliehen. Hass wird übrigens auch hier in den Lindenthal geschürt. 30 Menschen, die hier im Ort eine Unterkunft bekommen sollen, werden weit vor ihrer Ankunft verteufelt und angefeindet. Hier fängt unsere Verantwortung an zu widersprechen und aktiv zu werden.

Und dabei sind rechte, rassistische, antisemitische und andere Ungleichwertigkeitsvorstellungen keine Sache gesellschaftlicher Randgruppen oder jugendlicher Neonazis. Spätestens seit 2014/15 konstituiert sich um die Pegida-Aufmärsche, asylfeindliche Erhebungen und die Proteste gegen Corona-Maßnahmen ein rechtes Milieu, das sich aus einem breiten Bevölkerungsquerschnitt zusammensetzt und sich zunehmend radikalisiert.
Wir dürfen rechte Raumnahme nicht zulassen, nicht montags auf dem Ring, nicht in den Stadtteilen Leipzig, wo Geflüchtete unterkommen, nicht dort wo ukrainische Kriegsflüchtlinge als Nazis angefeindet werden oder russische Lokalitäten als vermeintliche Putinisten angegriffen werden. Wir dürfen nicht schweigend hinnehmen, dass AfD Vertreter auf Gedenkveranstaltungen an die Verbrechen und die Opfer der Nationalsozialisten wohlfeil zwischen anderen Repräsentant*innen der Stadt stehen oder sich Friedensdemonstrationen anschließen. Wir dürfen hier und heute nicht zulassen, dass Menschen(gruppen) wieder zu Sündenböcken erklärt werden.

Erinnern heißt handeln!
Praktisch im Kleinen und alltäglichen. Und reflektiert im Großen.
Auch zu dieser Stunde sterben in der Ukraine Menschen. Es sterben ukrainische Zivilist*innen. Es sterben russische und ukrainische Soldaten. Vladimir Putin inszeniert den russischen Feldzug als Projekt der »Entnazifizierung« und spielt damit explizit auf den Krieg der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland an. Er nutzt das Narrativ der antifaschistischen Sowjetmacht um Angriff und Kriegsverbrechen in der Ukraine zu legitimieren. Das ist Geschichtsrevisionismus und muss als solcher benannt werden: Denn Russland versucht nichts anderes als mit einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg das eigenständige Land Ukraine zu unterwerfen. Auf der anderen Seite sind wir im öffentlichen Diskurs mit Gleichsetzungen von Hitler und Putin und der Relativierung der Verdienste der Sowjetunion bei der Befreiung vom Nationalsozialismus konfrontiert: Ebenfalls Akte der Geschichtsklitterung.
Sehr geehrte Anwesende: an dieser Stelle wurden vor 78 Jahren auch Ukrainer und Russen hingerichtet, das sollten wir nicht vergessen, genau, wie wir nicht vergessen dürfen, dass es sowohl Ukrainer als auch Russen waren, die unter dem Banner der Sowjetunion für die Befreiung vom nationalsozialistischen Terror kämpften.
Lasst uns einen klaren Kompass bewahren und den Opfern gedenken und aktiv einstehen für eine Welt des Friedens und der Freiheit!