„Nie wieder Faschismus!“?
Anfang Januar 1990. Nachdem in den letzten Monaten des Jahres 1989 die Demos um den Ring in Leipzig unter der Losung „Wir sind das Volk“ mit dem Ziel, eine bessere, demokratischere DDR zu schaffen, stattgefunden hatten, tauchte jetzt eine neue Losung auf: „Wir sind ein Volk!“ Es ging nicht mehr um eine bessere DDR, es ging um den Anschluss der DDR an die BRD.
Gleichzeitig mit dieser neuen Losung erschienen Tausende von Flugblättern und Broschüren einer sich „Republikaner“ nennenden neofaschistischen Partei.
Es wäre vermessen, zu glauben, dass es vor 1990 in der DDR kein faschistisches Gedankegut gegeben habe. Sicher hatten die jungen und auch nicht so jungen Leipziger, die jetzt den Reps und den „Jungen Nationalen“ (JN) – der Jugendorganisation der Nationaldemokratischen Partei (NPD) – folgten, sich auch vorher schon mit rassistischen, antisemitischen, fremdenfeindlichen Ideen beschäftigt. Und die 12 Prozent der Wähler in Sachsen-Anhalt, die 1998 für die Deutsche Volksunion (DVU), stimmten, sind auch nicht über Nacht dem Boden entsprossen. Aber welche Fehler auch immer die Regierung der DDR auf ökonomischem und ideologischem Gebiet gemacht hat – es ist nie zu neofaschistischen Ausschreitungen gekommen. Als Jüdin, die seit 1946, aus der englischen Emigration kommend, in der sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR lebte, kann ich das aus eigener Erfahrung behaupten.
Mit den Pamphleten und Plakaten der Reps, der NPD und der DVU aber wurde der Rechtsextremismus in der DDR hoffähig. Damit wurde auch der Antifaschismus, den viele bei uns schon für gesichert, für eine Selbstverständlichkeit gehalten hatten, zur offenen Stellungnahme herausgefordert.
Am 12./13. Mai 1990 trafen sich Antifaschisten aus allen Teilen der DDR in der ehemaligen „Jugendhochschule“ am Bogensee und gründeten den „Bund der Antifaschisten“ (BdA), gedacht als einheitliche Organisation der Kämpfer gegen den Faschismus, der Verfolgten des Naziregimes und Hinterbliebenen und solcher, die erst später den Weg zum Antifaschismus gefunden hatten. Auch ich war zu dieser Zusammenkunft delegiert. Es zeigte sich aber bald, dass eine eigene Interessenvertretung der Verfolgten des Naziregimes (VdN) notwendig war. Nach dem Anschluss der DDR an die BRD nach Art. 23 des Grundgesetzes brach die gesamte vorbildlich organisierte medizinische und soziale Betreuung der VdN zusammen. Die Rentenregelung wurde in Frage gestellt. In der Debatte im Bundestag wurde anfangs sogar die Behauptung aufgestellt, die Ehrenpension für VdN hätten nur Träger der Verdienstmedaille der DDR erhalten.
Im November 1990 wurde deshalb in Berlin der Interessenverband ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand, Verfolgter des Naziregimes und Hinterbliebener (IVVdN) gegründet. In Sachsen hatte diese Gründung bereits am 11. Oktober stattgefunden, ich wurde Mitglied des Landesvorstandes.
So kam es, dass in Ostdeutschland zwei Organisationen nebeneinander bestanden: der Bund der Antifaschisten und der IVVdN.
Nach dem zentralen Beschluss über die Gründung des Bundes der Antifaschisten begann die eigentliche Arbeit, der Aufbau arbeitsfähiger Organisationen des Bundes in den Städten und Kreisen. In Leipzig gab es dafür gute Voraussetzungen. Am 21.12.1989 war in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) ein Artikel erschienen unter dem Titel: „Antifaschismus bewahren“, unterschrieben von Dr. Günter Döring, in dem zur Gründung einer „Antifaschistischen Liga“ aufgerufen wurde. Daraufhin meldeten sich etwa 200 Personen. Ein provisorischer Vorstand wurde gebildet, bestehend aus einer Kameradin und zwei Kameraden. Leider hatte dieser Vorstand nicht lange Bestand. Einer der Kameraden zog sich ganz in seine wissenschaftliche Arbeit zurück, der andere musste aus beruflichen Gründen Leipzig verlassen. Die Kameradin Margot, die als einzige übriggeblieben war, erkrankte bald darauf schwer.
Ich war von 1974 bis zu seiner Auflösung im Jahre 1990 Mitglied des Bezirkskomitees Antifaschistischer Widerstandskämpfer gewesen. 1990 hatte ich, mit großer Hilfe meines Mannes, begonnen, im Kreis Leipzig Land die Grundlagen für eine Gruppe des BdA aufzubauen. Nun wandte sich die kranke Kameradin an uns mit der Bitte, die Verantwortung für die Entwicklung des Bundes auch in der Stadt Leipzig zu übernehmen. Das konnten wir nicht ablehnen und sie übergab uns daraufhin alle bei ihr vorhandenen Unterlagen. Leider bestanden diese nur aus einer Vielzahl unterschiedlich großer Zettel, auf denen Namen und Adressen vermerkt waren. Es gab keine Beitrittsformulare und die Mitgliedsausweise, die der Vorstand in Berlin herausgebracht hatte, waren nicht ausgegeben worden.
Unsere erste Aufgabe bestand nun darin, Beitrittsformulare zu entwickeln und zu vervielfältigen und diese mit einem Begleitbrief an alle zu schicken, über deren Namen und Adressen wir verfügten. Die Antworten waren sehr unterschiedlich. Von etwa 30 bis 40 Personen erhielten wir die Beitrittsformulare ausgefüllt zurück mit der Erklärung, dass sie gerne im Bund der Antifaschisten mitarbeiten wollten. Einige schrieben uns, da seit ihrer ersten Meldung sehr viel Zeit vergangen sei, hätten sie sich inzwischen in anderen Organisationen ehrenamtlich engagiert. Von den restlichen hörten wir überhaupt nichts. Immerhin war auf diese Art ein Grundstock entstanden, aus dem einige besonders aktiv am Aufbau der neuen Organisation Mitarbeitende einen provisorischen Vorstand unter der Leitung des Kameraden Prof. Dr. Ernst Springer bildeten.
Wir begannen, als Bund der Antifaschisten in Gründung (BdA i. G.) die ersten Veranstaltungen zu organisieren. Dabei arbeiteten wir mit allen Organisationen zusammen, die unser Ziel teilten, etwas gegen den nun auch in Ostdeutschland immer offener zutage tretenden Neofaschismus zu tun. Das breiteste Bündnis, das damals vor allen Dingen im Kampf gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit entstand, kam auf ganz amüsante Weise zustande. Entsprechend unserer Aufgabenstellung zur Unterstützung von Flüchtlingen kamen wir mit der „Gesellschaft für Völkerverständigung“ in Verbindung. Deren Vorsitzender vertrat anfangs die Meinung, Arbeit mit Ausländern sei ausschließlich Sache seiner Organisation. Es gelang uns, ihn davon zu überzeugen, dass es gar nicht genug Vereine, Gruppen und Einzelpersonen geben könne, die sich für Menschen, die ihre Heimat aus welchen Gründen immer verlassen mussten, einsetzen. Wir einigten uns schließlich, alle, die sich auf diesem Gebiet engagieren, in einer lockeren Verbindung zusammenzufassen, der wir später den Namen „Aktion Toleranz“ gaben. Schon bei der ersten Zusammenkunft waren wir erstaunt, wer siech alles zu diesem Kreis zählte. Da kamen Vertreter von Gewerkschaften, von Parteien, von verschiedenen Bündnissen gegen Neofaschismus, einige Pfarrer sowie Vertreter christlicher Organisationen und es waren viele Jugendliche aus autonomen Gruppen vertreten, die durch ihren Einsatz deutlich machten, dass „autonom“ keineswegs mit „gewalttätig“ gleichzusetzen ist. Leider entwickelten sich später Bestrebungen, die „Aktion Toleranz“ in einen eingeschriebenen Verein umzuwandeln. Das geschah trotz unseres energischen Protestes und führte zu dem von uns erwarteten Ergebnis. Alle antifaschistischen Gruppen, die autonom bleiben wollten – und das waren vor die Jugendlichen – blieben den Zusammenkünften fern, es gab keine gemeinsamen Aktionen mehr und die „Aktion Toleranz“ löste sich langsam auf. Aber obwohl sie nun seit Jahren nicht mehr existiert, haben wir vom Bund der Antifaschisten noch immer Kontakt zu vielen dieser jungen Leute und unterstützen uns gegenseitig.
Der Leipziger Bund der Antifaschisten i. G. nahm bereits 1991 auch Verbindung zu Gruppen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN – BdA) in Westdeutschland auf und zwar in Nordrhein Westfalen und in Baden-Württemberg. Besonders mit einer Gruppe junger Kameradinnen und Kameraden, die in einer Kommune in Renchen in der Ortenau zusammenleben, bestehen bis heute gute Beziehungen. Kennen gelernt haben wir sie auf einem Seminar des VVN-BdA zum Thema Antifaschismus im Jahr 1991, das mein Mann und ich besuchten. Ich habe zweimal auf Veranstaltungen gesprochen, zu denen sie mich eingeladen hatten, einmal auf einem Kongress der „Volksfront gegen Faschismus, Rassismus und Antisemitismus“, das zweite Mal anlässlich einer Ausstellung über Frauen im antifaschistischen Widerstand.
Aber zurück nach Leipzig. Für den 21 03 1992, dem „Tag gegen Rassismus“, hatte die NPD eine Kundgebung angemeldet unter dem Motto „Nationalisten gegen Drogen“, und „Drogendealer ins Arbeitslager“ womit sie suggerierten, dass das Drogen-Problem durch die in Deutschland lebenden Ausländer zustande gekommen sei. Die Veranstaltung sollte auf dem Dimitroff-Platz (damals hieß er noch so!) stattfinden. Einige VertreterInnen der Aktion Toleranz meldeten daraufhin eine Gegendemonstration an. Nicht alle an der Aktion Toleranz beteiligten Gruppen schlossen sich dieser Initiative an, manche befürchteten, es könne zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken kommen. Die Gegendemo bekam die Erlaubnis, vom Connewitzer Kreuz zum Bayrischen Platz zu marschieren, die Polizei hielt die beiden Veranstaltungen fein säuberlich von einander getrennt. Rechte östlich, Linke westlich der Karl Liebknecht-Straße. Wir Älteren, die wir uns den Fußmarsch von Connewitz in die Stadt nicht zutrauten, trafen die Demonstranten am Bayrischen Platz.
Für mich war diese Kundgebung die erste Begegnung mit der bundesdeutschen Polizei. Als wir, mein Mann und ich, vor dem Bayrischen Bahnhof ankamen, glaubte ich zuerst, in das Szenarium eines Horrorfilms geraten zu sein. Rings um den Platz standen Polizisten mit Plastikschilden, Knüppeln und Visier, in den Nebenstraßen Wasserwerfer. Der ganze Platz war hermetisch abgesperrt, nur die Arthur-Hoffmann-Straße, durch welche sich die Demonstration näherte, war offen. Und dann kamen sie. Etwa zweieinhalbtausend vorwiegend junge Leute, diszipliniert in der Mitte der Straße marschierend, manche von ihnen vermummt, obwohl sie natürlich wussten, dass das verboten ist. Auf beiden Seiten des Zuges begleitete sie ein massiges Polizeiaufgebot. Auf dem Bayrischen Platz angekommen, gab der Leiter, der in einem LKW an der Spitze des Zuges fuhr, bekannt, dass die Demo beendet sei und die Polizei forderte die Jugendlichen auf, den Zug aufzulösen und sich zu zerstreuen. Das allerdings war unmöglich – ringsum bewaffnete Polizeikräfte und in der einzigen offenen Straße der Zug der Demonstranten!
Auf dem Gehsteig vor der Post, hinter dem Polizeikordon, boten Frauen der Aktion Toleranz „Fettbemmen“ an, ein kurdischer Schriftsteller verkaufte und signierte seine Bücher. Wir gingen auf die Demonstranten zu, die auf den Straßenbahngleisen saßen oder standen, um mit ihnen zu diskutieren und sie auf die vorbereiteten Schnitten aufmerksam zu machen. Ich trat zu einer Gruppe Vermummter und fragte sie, warum sie, trotz Verbots, ihre Gesichter verhüllten. Sie deuteten auf die Häuser, wo an fast jedem Fenster jemand mit einem Fotoapparat stand „Wir wollen weder von der Polizei noch von den Rechtsextremen identifiziert werden“ erklärten sie mir. Es gelang uns aber, einige, die offensichtlich Hunger hatten, dazu zu bringen, auf den Tisch der Aktion Toleranz zuzugehen Natürlich nahmen sie dabei die Tücher vom Gesicht – mit zugebundenem Mund kann man schlecht essen. In diesem Augenblick stürzten sich die Männer vom BGS mit geschwungenem Knüppel auf die Mädchen und Jungen; auch Leute von uns, die in der Nähe standen, bekamen dabei etwas ab. Erst nach diesem Angriff begannen die Jugendlichen auf der Straße Steine aufzuheben und zu werfen. Ich stand mitten drin! Auf der einen Seite prügelnde Polizisten, von der anderen Seite flogen Steine. Ein Journalist, der zufällig meinen Namen kannte, erwähnte das in seinem Bericht und ich bekam Briefe von Bekannten aus Berlin, die wissen wollten, ob mir etwas geschehen sei. Das war nicht der Fall, auch wenn ich nicht behaupten kann, dass ich mich in diesem Augenblick besonders wohl fühlte. Mit Hilfe meines Mannes brachte ich mich in Sicherheit.
Ganz anders ging es auf dem Dimitroffplatz zu, wo die Kundgebung der NPD stattfand Auch hier war der Platz von der Polizei abgeriegelt, aber gegen die Antifaschisten, falls diese versuchen sollten, die rechtsradikale Veranstaltung zu stören. Der erste Redner war der Hamburger Neonazi Christian Worch, der seither Leipzig zu etwas ähnlichem wie seiner zweiten Heimat auserkoren hat, da er jährlich mehrere Demos in unserer Stadt anmeldet. Die Rechten riefen „Sieg heil“ und „Ausländer raus“ und wurden von der Polizei verwarnt. Das kümmerte sie aber nicht, und trotz fortgesetztem Zeigen des Hitlergrußes und dem Ruf „Rot Front verrecke!“ geschah ihnen nichts.
Dieser 21. März hatte ein politisches Nachspiel im Sächsischen Landtag, als Abgeordnete der PDS-Fraktion Fragen zum Verhalten der Polizei stellten. Vor der Dresdner Kirche, in der die Landtagssitzungen damals stattfanden, hatten sich viele Antifaschisten versammelt, auch wir vom BdA i. G. Leipzig waren gekommen. Der PDS-Abgeordnete Steffen Tippach informierte uns über die Vorgänge im Sitzungssaal, wo der sächsische Innenminister Eggert über das Geschehen in Leipzig berichtet und das Vorgehen der Polizei als „verhältnismäßig“ bezeichnete …Ich trat auch ans Rednerpult, schilderte meine Eindrücke der Leipziger Ereignisse und, indem ich meinen achtjährigen Enkel Joe zu mir heranzog, bat ich die Anwesenden, all ihre Kraft einzusetzen, um zu verhindern, dass diese Kinder das gleiche erleben müssten, wie unsere Generation.
In der Leipziger Nikolai-Kirche fand kurz darauf eine Foto-Ausstellung statt, in der anhand authentischer Bilder die Aussagen von Innenminister Eggert widerlegt wurden.
Zum 60 Jahrestag der Machtübergabe an die deutschen Faschisten erließ der Bund der Antifaschisten einen Aufruf, in dem er daran erinnerte, das „mit der Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler der entscheidende Schritt zur Zerstörung der Weimarer Verfassung vollzogen“ wurde. Wir wiesen aber auch darauf hin, dass die Einschränkung parlamentarischer Rechte schon mit der Notverordnungspolitik unter Reichskanzler Brüning begonnen und die Abwehrkräfte der Republik geschwächt hatte. Die NSDAP, entstanden als Splittergruppe der extremen Rechten zu Anfang der zwanziger Jahre, hatte sich, durch staatliche Tolerierungspolitik und massive Finanzhilfe von Teilen der Großindustrie und der Banken, innerhalb weniger Jahre zu einer entscheidenden politischen Kraft entwickelt. Die Kräfte, die diesen Vormarsch hätten stoppen können, waren untereinander zerstritten. Von dieser Erfahrung ausgehend, rief die Aktion Toleranz zum 30. Januar 1993 zu einer gemeinsamen Kundgebung aller demokratischen Kräfte auf. Auf dem Leipziger Marktplatz waren Informationsstände aufgebaut, es beteiligten sich das Komitee für Gerechtigkeit, die „Vereinigte Linke“, „Cuba si“, der Demokratische Frauenverein, der DGB, die PDS. Der Bund der Antifaschisten hatte einen gemeinsamen Infostand mit dem IVVdN, der GNN-Verlag stellte sein Sortiment vor. Nachmittags fand eine Kundgebung statt, auf welcher der Vorsitzende der Aktion Toleranz, zwei Pfarrer, ein österreichischer und ein polnischer Bürger und etliche Jugendliche das Wort ergriffen. Diese Kundgebung wurde von einem hervorragenden Kulturprogramm umrahmt und mit einer friedlichen Demonstration abgeschlossen.
Anlässlich des 50. Jahrestages des Aufstandes im Warschauer Ghetto veranstaltete der Bund der Antifaschisten , der IVVdN, und der Rosa-Luxemburg-Verein, gemeinsam mit dem Polnischen Institut am 28. April eine würdige Ehrung der todesmutigen jüdischen Kämpfer des Jahres 1943. Als Motto wählten wir die Worte Arie Wilners, eines Teilnehmers am Aufstand „Es geht uns nicht darum, unser Leben zu retten. Wir wissen, keiner von uns kommt hier lebend heraus. Wir wollen nur die Menschenwürde retten.“
All das und noch einiges mehr geschah vor der offiziellen Gründung unseres Bundes in Leipzig. Am 22. Mai 1993 war es endlich so weit, dass wir die Gründungsversammlung durchführen konnten. Wir begannen mit einem Vortrag über die Notwendigkeit des Antifaschismus in unserer Zeit, dann berichtete der Vorsitzende des provisorischen Vorstands über die bisher geleistete Arbeit. Ein Vorstand wurde gewählt, mein Mann, der den provisorischen Vorstand geleitet hatte, wurde Vorsitzender. Ich gehörte dem Vorstand als Schriftführerin an, es ergab sich aber, dass ich die Aufgaben der Geschäftführerin zusätzlich übernehmen musste. Das war sehr zweckmäßig, da Vorsitzender und Geschäftsführerin eng zusammenarbeiten konnten. Auch die Geschäftsstelle richteten wir in unserem Haus ein – der Bund hatte kein Geld, Räume in der Stadt zu mieten. Eine Satzung war ausgearbeitet worden und wurde angenommen. Sie sah vier Arbeitsrichtungen vor:
- Bildungsarbeit, vor allem unter Jugendlichen,
- Erinnerung an den antifaschistischen Kampf und die Verfolgung von Antifaschisten und so genannten „rassig minderwertigen“, Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und anderen
- Ein Forschungsprojekt „Erforschung des antifaschistischen Widerstandes 1933 bis 1945 im Regierungsbezirk Westsachsen (Leipzig)“
- Unterstützung von Flüchtlingen und Immigranten.
Dann begann der „bürokratische“ Teil der Arbeit. Die Satzung musste dem zuständigen Finanzamt sowie dem Registergericht vorgelegt werden. Die Vorstandsmitglieder mussten notariell beglaubigt werden. Erst nachdem das alles geschehen war, das Finanzamt unsere Gemeinnützigkeit bestätigt hatte und wir beim Registergericht eingetragen waren, konnten wir als „Bund der Antifaschisten e. V, Sitz Leipzig“ in Erscheinung treten.
Mit der Bildungsarbeit hatten wir schon begonnen, bevor wir „eingetragener Verein“ geworden waren. Wir führten eigene Vortragsabende durch und sprachen vor Schulklassen und Jugendgruppen. Dabei war der von uns behandelte Themenkreis sehr vielfältig. Schwerpunkte dieser Veranstaltungen waren der antifaschistische Widerstand während der Nazizeit in all seinen Varianten, die Geschichte der Juden, vor allem der Leipziger Juden und das Problem des Antisemitismus, die Entwicklung des Nationalsozialismus und seine Verbrechen, Neofaschismus heute und wie man ihm entgegentreten kann. Zu Buchlesungen luden wir bekannte Autoren ein: Erich Selbmann, Emil Carlebach, Otto Wiesner. Herr Friedrich Martin Balzer berichtete über den antifaschistischen Kampf der Pfarrer Erwin Eckert und Heinz Kappes. Das Ehepaar Gerhard und Alice Zadek las aus seinem Erlebnisbericht „Mit dem letzten Zug nach England“. Aus eigenem Erleben als Häftling in Auschwitz berichtete die Berliner Kameradin Lili Segal, eine der sehr wenigen, denen es gelang, aus dem berüchtigten Vernichtungslager zu fliehen. Über das Leben und Leiden in Auschwitz erzählte auch Kamerad Justin Sander aus Chemnitz.
Eines Tages erhielten wir ein Schreiben von einer uns unbekannten Kameradin aus Regensburg, die anfragte, ob wir in der Lage seien, kurzfristig eine Veranstaltung mit Herrn Tadeus Sobolewicz zu organisieren. Er war als Siebzehnjähriger in Polen verhaftet worden, durch sechs Konzentrationslager geschleppt, darunter neben Auschwitz und Buchenwald auch die Außenlager in Regensburg und Leipzig. In Regensburg war er schon einige Male aufgetreten, gerne wollte er nun auch nach Leipzig kommen. Trotz sehr kurzer Vorbereitung wurde es eine gut besuchte Versammlung und wir konnten dem polnischen Kameraden am nächsten Tag die Plätze seiner nicht gerade angenehmen Erinnerungen an Leipzig zeigen.
Interessante Veranstaltungen führten wir mit dem „Werk 2, Kulturfabrik“ durch. In den Hallen dieses ehemaligen Fabrikgebäudes gab es Ausstellungen und begleitende Vorträge, von denen die meisten der Bund der Antifaschisten organisierte. Zweimal trat unter Federführung des Bundes der Antifaschisten die Tochter Bertolt Brechts, Hanne Hiob, mit Programmen in Leipzig auf.
Schon bald nach Gründung des Bundes nahm ich mit drei anderen Leipziger Kameradinnen an einem Lehrgang der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema „Antifaschismus“ in Ahrensburg bei Hamburg teil. Wir waren in dem Kreis von über 20 meist jungen Menschen, vorwiegend aus den „alten Bundesländern“ diejenigen, die sich am eifrigsten an den Diskussionen beteiligten, da wir die umfassendsten Kenntnisse über den Faschismus in Vergangenheit und Gegenwart besaßen. Wir fanden während unseres Aufenthalts auch Gelegenheit zu einem Zusammentreffen mit der Verteidigergruppe des zu dieser Zeit im Hamburger Gefängnis einsitzenden Antifaschisten Gerhard Bögelein und konnten sogar ein Gespräch mit ihm führen.
Als das Bezirkskomitee Antifaschistischer Widerstandskämpfer im Dezember 1989 aufgelöst wurde, war sein Bestand an Büchern an die Bibliothek des Bezirksvorstands der PDS übergegangen. Unmittelbar bevor diese Bibliothek aufgelöst wurde (und die Bücher in der allgemeinen Vernichtung von DDR-Literatur auf der Müllhalde landen sollten) gelang es uns, alles, was unser Arbeitsgebiet berührte, herauslösen und vorerst in Kisten auf unserem Privatgrundstück unterbringen. Das war der Grundstock unserer „Bibliothek des Antifaschismus“. Über „Leipzigs Neue“, eine linke Zweiwochenzeitung, appellierten wir an die Leser, uns Bücher zum Thema Antifaschismus zu überlassen. Auf unseren Veranstaltungen und auf Versammlungen anderer fortschrittlicher Organisationen richteten wir die gleiche Bitte an die Anwesenden. Auch die Leipziger Volkszeitung berichtete über unsere Bibliothek. Und so erhielten wir Bücherspenden vor allem von älteren Menschen, die in eine kleinere Wohnung zogen und sich von einem Teil ihrer Bibliothek trennen mussten oder die sich Sorgen darum machten, was nach ihrem Tod aus ihren Büchern werden würde. Die Anzahl unserer Bücher nahm zu – aber wohin damit? Zu unserem privaten Grundstuck gehörte eine große Werkstatt, die wir nicht benötigten und in der allerhand Gerümpel herumstand. Die wurde ausgeräumt, von Mitgliedern des Bundes vorgerichtet und eine Heizung installiert. Von einem aufgelösten Betrieb konnten wir sehr billig Spinde kaufen, die wir in Bücherschränke umrüsteten. Aus der Unterbringung der Bibliothek des Bundes in unserem Grundstück ergab sich, dass ich die Verantwortung für die Bibliothek übernahm. Da ich Bücher liebe, macht mir diese Arbeit zwar viel Freude, aber das Aufstellen eines Thesaurus (Sachthemenkatalog), das Sammeln, Einordnen und Einsortieren der Literatur erforderte sehr viel Arbeit. Zwar hatte ich eine Gruppe fleißiger Helfer und zeitweilig beschäftigte der Bund auch eine ABM-Kraft in der Bibliothek, aber keiner von uns hatte eine bibliothekarische Ausbildung und wir mussten manches zwei- oder dreimal machen, ehe es den Ansprüchen genügte. So entwickelten sich meine Aufgaben für den BdA allmählich zu einer (natürlich unbezahlten) Vollzeitbeschäftigung. Inzwischen habe ich aus gesundheitlichen Gründen alle Funktionen außer der Tätigkeit als Bibliotheksleiterin aufgegeben. Mit einem Bestand von über 2 000 Büchern und etwa 1 000 Broschüren habe ich auch so noch genug zu tun.
Jährlich fuhren wir mit Jugendlichen zum Tag der Selbstbefreiung nach Buchenwald. Da die jungen Leute ja aus verschiedenen Schulen kamen und ihr Wissen über die faschistischen Konzentrationslager sehr unterschiedlich war, gab ich im Bus eine Einführung zu dem bevorstehenden Besuch. Dabei kam es mir auch darauf an, der heute üblichen Leugnung der Selbstbefreiung entgegen zu treten. Natürlich war diese Aktion der Gefangenen nur möglich, weil die US-Armee bereits wenige Kilometer von Weimar entfernt stand und die Mehrheit der SS-Bewachungsmannschaften sich aus dem Staub gemacht hatten. Aber dass die Selbstbefreiung eine Tatsache war, hatte ich bereits im Herbst 1945 erfahren.
Damals hatten jüdische Wohltätigkeitsvereine Kinder bzw. Jugendliche, die seit dem Einmarsch der faschistischen Wehrmacht in Polen in Konzentrationslagern eingesperrt waren, nach England geholt mit der Maßgabe, dass sie später in den zu gründenden jüdischen Staat auswandern sollten. Ich arbeitete in einem Heim mit 20 dieser Jungen. Darunter war einer, Elias, der den Todesmarsch von einem Lager im Osten nach Buchenwald mitgemacht hatte. Der Junge, wie auch all meine anderen Schützlinge seit 1939 im Konzentrationslager, litt an einem Herzfehler und erzählte, dass er sich diesen beim Kampf um die Befreiung des KZ zugezogen habe. Sicher war das nicht ganz richtig, Elias hatte in den letzten sechs Jahren so vieles durchgemacht, was sein Herzleiden herbeigeführt haben konnte und die Kinder waren bei dem Aufstand nicht eingesetzt worden, aber der Gedanke, nicht nur Opfer, sondern auch Kämpfer gewesen zu sein, gab ihm Selbstbewusstsein. Und wir in England erfuhren zum ersten Mal etwas über die Selbstbefreiung der Häftlinge.
Noch einen vom BdA organisierten Buchenwaldbesuch möchte ich erwähnen. Eine der Gruppen Jugendlicher, mit denen wir seit der Zeit der „Aktion Toleranz“ in Verbindung standen, war „Kahina“, Mädchen und Jungen, die sich für Asylbewerber und Ausländer im allgemeinen einsetzten. Sie wandten sich eines Tages an uns mit der Frage, ob wir jemanden wüssten, der eine Führung durch das KZ Buchenwald in englischer Sprache durchfuhren könne. Sie betreuten für etwa eine Woche eine Gruppe indischer Adivasis (Ureinwohner, Angehörige verschiedener Stämme), die sich für den Besuch eines KZ interessierten. Beides, eine Buchenwald-Besichtigung und die Führung in englischer Sprache – kein Problem für mich. Ich bat aber, dass die indischen Freunde uns vorher zuhause aufsuchen, damit ich ihnen über den deutschen Faschismus und seine Ausrottungspolitik berichten könne. Die Gruppe bestand aus drei Frauen und zwei Männern. Die Leiterin war eine Nonne, was man ihr allerdings nicht ansah, sie trug wie die anderen beiden Frauen einen Sari. Alle fünf waren entsetzt über das, was ich ihnen über das Konzentrationslager erzählte und was ich ihnen dort zeigte. Nicht weniger entsetzt aber waren sie über Provokationen von Neonazis gegen die Gedenkstätte und gegen das Workcamp Jugendlicher, die in ihrem Urlaub dort Erhaltungsarbeiten verrichteten.
Zum 50. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee fuhren wir am 26. Januar 1995 mit zwei Bussen dorthin. Der Tag der Fahrt war bewusst gewählt, erwies sich aber als nicht sehr günstig. Wir hätten voraussehen müssen, dass an diesem Tag nicht nur sehr viele Besucher das Lager aufsuchen würden, sondern dass die Anwesenheit vieler offizieller Gäste besondere Sicherheitsmaßnahmen erforderte. So wurden wir bereits nicht sehr weit hinter der polnischen Grenze gestoppt und uns die Weiterfahrt verwehrt. Was tun? Ich weiß nicht mehr, wer den rettenden Gedanken hatte: wir müssten ein offizielles Dokument vorlegen. Ich war damals Mitglied des Landesvorstands des IVVdN Sachsen und besaß in dieser Funktion einen Ausweis mit einem runden Stempel. Die Vorlage dieses Ausweises veranlasste die polnische Polizei nicht nur, uns durchzulassen – wir wurden als besonders wichtige Personen (VIP) bis Auschwitz eskortiert! Allerdings hatten wir sehr viel Zeit verloren und erreichten die Gedenkstätte erst kurz vor der Schließung, so dass wir nur noch wenig besichtigen konnten. Am nächsten Tag waren wir dann in Auschwitz-Birkenau. Wir stellten auf der Rampe, wo über 50 Jahre zuvor die Selektionen stattgefunden hatten, brennende Kerzen auf. Viel weiter aber kamen wir nicht. Für die „Offiziellen“ war der Platz mit der Rednertribüne und der Weg dorthin aus Sicherheitsgründen weiträumig abgesperrt. Wir konnten nicht einmal zu dem gesprengten Krematorium, um das mitgebrachte Blumengebinde niederzulegen. Aber wir machten auch eine sehr interessante Bekanntschaft, Ceija Stoyka, eine Romni, die als Kind Häftling in Auschwitz gewesen war und als einzige ihrer großen Familie die Vernichtung überlebte. Heute lebt sie als Schriftstellerin in Wien. Sie war mit der Eisenbahn gekommen, was, so erzahlte sie uns, für sie eine Qual ist, da das Geräusch des fahrenden Zuges in ihr stets das Gefühl der Fahrt im Viehwaggon nach Auschwitz wieder aufleben lasse.
Wie in allen Orten Ostdeutschlands begann auch in Leipzig sofort mit der Vereinnahmung der DDR die Umbenennung von Straßen und Plätzen. Bereits in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 wurde der Karl-Marx-Platz zum Augustusplatz, wobei kaum jemand weiß, dass mit diesem Namen nicht August der Starke geehrt wird, sondern jener sächsische König, der während der Befreiungskriege 1813 auf Seiten Napoleons stand. Der BdA nahm zusammen mit vielen anderen den Kampf gegen die Verbannung der Namen von Antifaschisten aus dem Straßenbild Leipzigs auf. Besonders wehrten wir uns gegen die Umbenennung der Georg-Schumann-Straße in Hallesche Straße, die damit begründet wurde, Auswärtige würden sonst den Weg nach Halle nicht finden. Wir schrieben an zahlreiche Leipziger Persönlichkeiten, organisierten Protestdemos und Info-Stände, an denen wir Unterschriftenlisten gegen diese Umbenennung auslegten. Zwei ältere Damen meinten, als ich sie um ihre Unterschrift bat: „Natürlich, Georg Schumann war doch kein Kommunist.“ „Doch, das war er“, erwiderte ich, worauf eine der beiden sagte: „Na ja, aber ein anständiger!“ und beide unterschrieben. Wir erreichten schließlich, dass der Antrag der CDU-Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung abgelehnt wurde. Im Kampf gegen die Umbenennungen leisteten der Bund der Antifaschisten und besonders unsere ABM-Kräfte eine umfangreiche Arbeit. Alle Antifaschisten, nach denen Straßen und Plätze benannt waren, wurden erfasst. Das waren 1996, nachdem schon eine ganze Anzahl Straßen einen anderen Namen erhalten hatten, noch 141 Personen. Es wurden Kurzbiographien mit Quellenhinweisen über sie angelegt. Dieses Material stellten wir den Mitgliedern der für die Umbenennung verantwortlichen Kommission zur Verfügung. Kopien erhielten auch das Leipziger Stadtarchiv und das Staatsarchiv.
Am 20.07.1994 wurde im Neuen Rathaus eine Gedenktafel zu Ehren der von den Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Stadtverordneten und ehrenamtlichen Stadträte angebracht. Es konnte aber niemand sagen, wer die so Geehrten waren. Daher beschloss unser Verein, diese Wissenslücke zu schließen. Das war eine langwierige Arbeit. Es gab keine Übersicht über die Stadtverordneten und ehrenamtlichen Stadträte der Weimarer Republik seit 1918. Diese musste erarbeitet werden. Erst als zweiten Schritt konnten wir herausfinden, welche davon nach dem Januar 1933 aus politischen Gründen zum Ausscheiden gezwungen oder inhaftiert wurden. Das forderte von unseren ABM-Kräften und Helfern aus dem Kreis unserer Mitglieder aufwendiges Suchen in den verschiedenen Archiven. Als Ergebnis konnten wir dem Stadtrat die Zahl der verfolgten Stadtverordneten mitteilen und am 27. Januar 1996 dem Oberbürgermeister eine Mappe mit den Namen und Kurzbiographien der zehn von den Nazis Ermordeten überreichen.
Im Rahmen der Straßenumbenennungen führten wir eine Kampagne, um zu erreichen, dass endlich eine Straße nach dem jüdischen sozialdemokratischen Stadtverordneten Julius Krause benannt wird. Krause war 20 Jahre lang Vorsitzender der Leipziger Sektion des „Centralvereins Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Er wurde am 10. November 1938 verhaftet und sechs Tage später in Buchenwald totgeschlagen. Zu seinem 60. Todestag hielten wir eine Gedenkstunde an seinem Grab auf dem Alten Jüdischen Friedhof ab, auf welcher der Vorsitzende des Bundes über das Leben Krauses berichtete und der Vorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinde den Kaddisch (das Totengebet) sprach. Obwohl im Zusammenhang mit den Eingemeindungen viele Straßen neue Namen erhalten mussten, dauerte es zu unserer Verwunderung über drei Jahre, bis Leipzig eine Julius-Krause-Straße erhielt und zwar durch die Umbenennung einer Straße, die bisher nach einem ebenfalls in Buchenwald ermordeten Kommunisten benannt gewesen war.
Das Material über alle Verfolgten erhielten auch in diesem Fall das Leipziger Stadtarchiv und das Staatsarchiv. Außerdem liegt es noch bei uns und wartet darauf, aufgearbeitet und in unserer Broschürenreihe veröffentlicht zu werden.
Selbstverständlich nehmen diejenigen von uns, die es zeitlich ermöglichen können, an den jährlichen Veranstaltungen des IWdN zum Tag der Erinnerung, Mahnung und Begegnung im September sowie am 8. Mai zum Tag der Befreiung teil. Besonderen Wert legen wir auf die Teilnahme an der Kundgebung der Israelitischen Religionsgemeinde zum Gedenken an die Reichspogromnacht im November 1938. Zweimal hatte ich die Möglichkeit, in Absprache mit dem Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinde (der ich angehöre) an der zweiten Station dieser Kundgebung, am Gedenkstein an der Parthe, zu sprechen.
In Vorbereitung auf den 50. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus berief der Bund der Antifaschisten im April 1995 eine Pressekonferenz ein, auf der wir ausführlich über unseren Standpunkt zum Tag der Befreiung informierten. Dabei kam die Rede auch auf die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure. Die Leipziger Volkszeitung vom 28.04. berichtete dazu: „Kritisch äußerten sich die Vertreter des Bundes zur noch immer ausstehenden Rehabilitierung von Kriegsdeserteuren. So seien in Deutschland bis 1945 etwa 50 000 Todesurteile ergangen, von denen 22 000 vollstreckt wurden. 100 000 Deserteure erhielten Zuchthausstrafen“.
In Leipzig begannen wir, uns mit der Gruppe von Deserteuren zu beschäftigen, die auf dem Ostfriedhof in einem „Reihengrab“ an der Friedhofsmauer beigesetzt ist. Gemeinsam mit dem IVVdN, der „Initiative Christliche Linke“, dem „Leipziger Friedenszentrum“ und dem „Komitee für Gerechtigkeit“ beschlossen wir, dieser Kriegsgegner mit einem Grabmal zu gedenken. Wir schrieben an den Amtsleiter des Friedhofsamtes und unterbreiteten, auch im Namen der anderen Organisationen, diesen Vorschlag. Nach einigen Gesprächen mit den Verantwortlichen stellten wir schließlich am 2. Juni einen ordnungsgemäßen Antrag. Bei den Gesprächen mit dem Friedhofsamt ging es im wesentlichen um drei Probleme:
- Wie steht die Bundesregierung zu unserem Vorschlag, das heißt, sind Deserteure würdig, dass man ihrer gedenkt?
- Wer von den 38 in der Gräberreihe beigesetzten Hingerichteten war ein Deserteur?
- Wer kommt für die Kosten des Grabmals auf?
Um die erste Frage zu beantworten, mussten wir uns mit den Vorurteilen auseinandersetzen, Wehrmachtsdeserteure seien Feiglinge und Vaterlandverräter. Unser Standpunkt war, dass ein Deserteur, unabhängig von dem persönlichen Grund seiner Fahnenflucht, sehr viel Mut aufbringen musste, um völlig auf sich gestellt, ohne mit jemandem darüber sprechen zu können, sich von seiner Einheit zu entfernen. Verrat am Vaterland konnte jemand, der sich weigerte, den faschistischen Terrorstaat als „Vaterland“ anzuerkennen, nicht begehen.
Witwen von Deserteuren erhielten keine Anerkennung als Kriegerwitwen und deshalb nicht die entsprechende Rente. Es galt noch immer der Gedanke des ehemaligen Wehrmachtsrichters und späteren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Filbinger, was einmal Recht war, könne jetzt nicht Unrecht sein. Erst 1991 entschied das Bundessozialgericht in einem Einzelfall zugunsten der Witwe eines Hingerichteten mit der Begründung, dass das Todesurteil dieser „Terrorjustiz offensichtlich unrechtmäßig sei“. Wir stützten unseren Antrag auf Forderungen der SPD-Fraktion im Bundestag, nach 50 Jahren die Opfer der NS-Militärjustiz endlich zu rehabilitieren und forderten von der SPD-geleiteten Stadtverwaltung Leipzigs, davon abgeleitet in ähnlicher Weise zu reagieren.
Die Beantwortung der zweiten Frage erforderte umfangreiches Quellenstudium. Es gelang uns schließlich der Nachweis, dass 26 der an der Mauer Beigesetzten wegen Desertion hingerichtet worden waren.
Zu den Finanzen einigten sich alle antragstellenden Organisationen, je 1 000 DM für das Grabmal aufzubringen. Der Vorsitzende des BdA unterschrieb eine persönliche Verpflichtung für die gesamte Summe.
Nun folgten Anträge an die übergeordneten Behörden, die immer wieder mit neuen Fragen zurückkamen. Am 27. Mai 1997 entnahmen wir der LVZ: „Mit dem Grabmal kommt die Stadtverwaltung einem Antrag des Bundes der Antifaschisten nach. Dieser übernimmt auch die Kosten.“ Da der Kostenvoranschlag des Friedhofsamtes sich auf 15 500 DM belief, hätte nicht nur unser Verein, sondern auch der persönlich haftende Vorsitzende „Insolvenz anmelden“ müssen, selbst wenn alle Antragsteller ihre Verpflichtung eingehalten hätten, was jedoch nicht der Fall war.
Mitte April erfuhren wir, dass die Stadtverwaltung ihre Zustimmung zurückgenommen habe. Wir schrieben an den Oberbürgermeister, informierten ihn über das Ergebnis unserer Ermittlungen und baten, unserem Vorhaben zuzustimmen. Gleichzeitig schrieben wir an zahlreiche namhafte Persönlichkeiten der Stadt, des Landes und des Bundestages. Am 30.6.1998 erhielten wir die Zustimmung von Herrn Lehmann-Grube. Und es geschah ein Wunder! Das Friedhofsamt schenkte uns den Stein im Werte von 10 000 DM und übernahm die kostenlose Gestaltung der Anlage und die Wartung. Der IVVdN steuerte 3 000 DM bei. Nun reichte unser Geld und wir hatten sogar noch etwas übrig.
Vom 18. bis 22. Juni 1997 nahmen wir mit einem Info-Stand am „Markt der Möglichkeiten“ des 27. Deutschen Evangelischen Kirchentages teil. Wir konnten durch unsere Aktivitäten erreichen, dass es zu einem gemeinsamen Stand von Bund der Antifaschisten, Sitz Leipzig, IVVdN Dachverband und VVN-BdA Westdeutschland kam.
Für uns war das eine außerordentlich interessante Gelegenheit, mit Menschen der verschiedensten Weltanschauungen ins Gespräch zu kommen. Einer unserer Mitglieder arbeitete in der Leitung des „Marktes der Möglichkeiten“ mit und wir erhielten ein Dankschreiben der Kirchentagsleitung.
Am 7. März 1997 informierten die Leipziger Volkszeitung und die Linke Zweiwochenzeitung „Leipzigs Neue“ über die Absicht der NPD und ihrer Jugendorganisation, „Junge Nationale“ (JN), zum 1. Mai bundesweit zu einer „Demonstration des Nationalen Widerstandes“ in Leipzig zu mobilisieren. Unter dem Motto „Arbeit für Deutsche!“ wollten die Neonazis zum Völkerschlachtdenkmal marschieren. Die breite Gegenbewegung aus weiten Kreisen der Bevölkerung veranlasste die Stadtverwaltung, diesen Aufmarsch zu verbieten. Am 28. April hob das Sächsische Oberverwaltungsgericht in Bautzen das Verbot auf! Aber am nächsten Tag verbot Leipzig die rechte Demo erneut. Und dabei blieb es – für dieses Mal!
Der Bund der Antifaschisten und das antifaschistische Jugendbündnis „Ostermarsch e. V.“ hatten zu einer Demonstration vom Leipziger Süden zum Sachsenplatz, wo die Maikundgebung des DGB stattfand, aufgerufen. Die Beteiligung übertraf unsere Erwartungen. Die Zeitungen sprachen von 2 000 Teilnehmern, die den Zug begleitende Polizei schätzte 5 000. Mit diesen (Leipziger) Polizisten ergab sich übrigens die denkbar beste Zusammenarbeit. Vor Beginn der Demo stellte sich der Vorsitzende des BdA, Prof. Dr. Springer, dem leitenden Offizier der Polizei vor und sie vereinbarten, von keiner Seite Provokationen zuzulassen. An der Spitze unseres Zuges marschierte neben den Einberufern auch der Vorsitzende des Stadtvorstandes der PDS sowie Lothar Bisky, der Vorsitzende dieser Partei, der eine kurze Ansprache vor den Demonstranten hielt, in der er unter anderem die Absicht der Stadtverwaltung verurteilte, den Georgi-Dimitroff-Platz vor dem ehemaligen Reichsgericht umzubenennen. Wer solche Umbenennungen plane, sagte er, muss sich nicht wundern, wenn ihm die neuen Faschisten auf der Nase herumtanzen.
Die Voraussage Lothar Biskys bewahrheitete sich genau ein Jahr später. Bereits im Mai 1997 hatte die NPD/JN wieder eine Kundgebung am Völkerschlachtdenkmal zum „Tag der Nationalen Arbeit“ für den 1. Mai 1998 angemeldet. Wieder hatte die Stadt im April 1998 ein Verbot ausgesprochen und das Oberverwaltungsgericht am 30. April 1998 dieses Verbot aufgehoben. Die Presseerklärung des OVG schloss mit den Worten: „Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts ist unanfechtbar.“ Für die Polizei bedeutete das den Auftrag, die genehmigte Kundgebung der Rechtsextremen zu schützen. Und das tat sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, auch wenn der Polizeipräsident im Gespräch mit einem Mitglied des BdA am 25.11.1998 ausführte: „Wir haben deutlich gesehen, schon im Vorfeld, die Leipziger Bürger wollten eine solche Veranstaltung, wie die der NPD, nicht haben.“ Der Polizeipräsident war sich also im klaren darüber, dass die jungen Antifaschisten, (nur die wenigsten davon im BdA organisiert) den Willen der Leipziger Bürger zum Ausdruck brachten, wenn sie versuchten, die Fascho-Kundgebung zu verhindern. Wenn es auch, nach den Worten des Polizeipräsidenten, „nicht Sache der Polizei sein kann, gut und böse auseinander zu halten“, so mussten die in Leipzig zusammengezogenen über 6 300 Polizisten aus dem gesamten Bundesgebiet doch mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und Beobachtungshubschraubern Reichkriegsfahnen schwenkende und „Sieg Heil“ rufende Neonazis schützen, die lachend oben am Hang beim Volkerschlachtdenkmal standen.
Durch unsere Tätigkeit im Bund der Antifaschisten e. V. wurden unser Namen und da sich Geschäftstelle und Bibliothek auf unserem Grundstück befanden, auch unsere Adresse allmählich sehr bekannt, nicht nur bei unseren Freunden, sondern auch bei neofaschistischen Kräften. Im Oktober 1998 hörten wir auf unserem Anrufbeantworter eines Tages folgende Mitteilung: „Ihr roten Schweine, ihr dreckigen Judensäue, wir kriegen euch schon. Für das nächste Jahr ist die Vergasung aller Juden bereits vorbereitet.“ Wir informierten die Polizei, die eine Anzeige gegen „Unbekannt“ aufnahm. Anrufe solchen Inhalts, immer auf dem Anrufbeantworter, wiederholten sich regelmäßig zwei- bis dreimal in der Woche. Es war stets dieselbe, offensichtlich verstellte Stimme. Die Polizei konnte uns nicht helfen, man riet uns, eine neue Telefonnummer zu beantragen. Dagegen sträubte ich mich, es schien mir unmöglich, all jene, mit denen wir in Verbindung stehen, davon zu informieren und ich fürchtete, dass viele Verbindungen abreißen würden. So ging das drei Monate lang. Als wir am Neujahrstag 1999 den Anrufbeantworter abhörten, tönte uns die bereits bekannte Stimme entgegen: „Hier spricht euer Freund. Für das Neue Jahr wünsche ich Euch einen angenehmen Aufenthalt in der Gaskammer.“ Da war meine Kraft zu Ende, ich stimmte einer neuen Telefonnummer zu, die nirgends veröffentlicht wird. Seither haben wir Ruhe. Zumindest was unser Telefon betrifft.
Leipzig aber hat keineswegs Ruhe. Am 3. November 2001, am 6. April und am 8. Juni 2002 fanden in Leipzig von dem Neonazi Worch angemeldete Naziaufmärsche statt. Die nächsten werden am 13. Juli und am 3. August veranstaltet. Am 3.11.2001 gelang es den Antifaschisten, trotz der Angriffe seitens der Polizei, die Nazis so lange in der Nähe des Bahnhofes festzuhalten, dass die zugelassene Zeit für die Demonstration fast abgelaufen war und diese sich zurückziehen mussten. Am 6. April ging die Polizei auf neue Weise vor: sie nahm die vom Oberverwaltungsgericht ausgesprochenen Vorgaben so genau und durchsuchte die am Hauptbahnhof versammelten Faschos so gründlich, dass es ohne das Zutun der Gegendemonstranten nicht zu einem Aufmarsch kam. Worch legte vor Gericht Widerspruch gegen dieses Verhalten der Polizei ein. So konnten die weiteren Demos ohne Behinderung durch die Polizei stattfinden. Die NPD, die JN und wie ihre Gesinnungsgenossen sich sonst noch nennen mögen, erobern nach und nach die Straße! Nazikundgebungen werden in Leipzig zur Normalität.
Nie wieder Faschismus! Das war 1945 nicht nur der Schwur der Buchenwaldhäftlinge, es war der Wunsch der meisten Deutschen. Nie wieder Faschismus?
Text: Rahel Springer